Vortrag von Frau Dr. Spiess Rheinisches Schützenmuseum Neuss

anl. der Ausstellung 600 Jahre St. Sebastianus Nörvenich 1408 e.V.

 

Vortragsmanuskript von Dr. Britta Spies am 25. Mai 2008 aus Anlass der Ausstellung zum 600-jährigen Bestehen der St. Sebastianus Schützenbruderschaft Nörvenich

Dr. Britta Spies

Rheinisches Schützenmuseum Neuss mit Joseph-Lange-Schützenarchiv

Oberstraße 58-60

41460 Neuss

Schuetzenmuseum@aol.com

Tel. 02131/904144

 

Die St. Sebastianus Schützenbruderschaft Nörvenich feiert an diesem Wochenende ihr 600-jähriges Bestehen. Ein beeindruckendes Jubiläum! Sechs Jahrhunderte! Noch beeindruckender wird dieses Ereignis, wenn man nicht nur die Zahl auf sich wirken lässt, sondern auch überlegt, was in dem Zeitraum seit Gründung der Bruderschaft im Jahr 1408 alles geschehen ist. Als sich die Schützen in Nörvenich zu einer Bruderschaft zusammenschlossen, standen die Menschen in Europa vor großen Umwälzungen und Neuerungen: Wenige Jahre nach der Gründung entwickelte Johannes Gutenberg den Buchdruck mit beweglichen Lettern; 1492 machte sich Christoph Kolumbus auf den Weg, um Amerika zu entdecken – und wenn er auch zunächst in der Karibik landete, so begann damit doch eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit; und wiederum einige Jahre später, im Oktober 1517, nagelte Martin Luther seine Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg und leitete damit eine der folgenschwersten Entwicklung in der bisherigen Geschichte Europas ein.

Die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas oder die Auflösung der Einheit der Kirche – all diese Ereignisse sind lange her, und doch spüren wir die Auswirkungen bis heute, denn das, was uns heute unter den Schlagworten Informationszeitalter, Globalisierung und Gesellschaft ohne Glauben jeden Tag beschäftigt, lässt sich bis in diese Zeit zurückverfolgen.

Wie wir heute leben, ist somit das Ergebnis einer langen Entwicklung. Jede Gesellschaft ist ein bisschen wie das Haus einer Familie: Im Laufe der Zeit sammelt sich viel darin an, manche Möbel sind sehr alt, manche ganz neu; Keller und Dachboden stehen voller Gerümpel, das niemand mehr braucht, aber von dem man sich auch nicht trennen mag. Manchmal ändert sich lange Jahre nichts und dann muss plötzlich ganz schnell renoviert und repariert werden. Und wer selbst in einem Haus lebt, das er von seinen Eltern übernommen hat, die es vielleicht sogar von ihren Eltern geerbt haben, der weiß, dass so ein Haus eben nicht aus „einem Guss“ ist, sondern viele Zeitschichten widerspiegelt.

Und letztlich ist auch ein Verein ein bisschen so, wie ein ererbtes Haus. Man baut nicht neu, sondern man zieht ein vorhandenes Gebäude ein, das man sich zwar nach seinen Vorstellungen einrichten kann, das aber doch die Möglichkeiten vorgibt. Wer etwas ganz anderes und völlig neues will, müsste das Haus abreißen! Aber damit würde man auch die eigene Geschichte, die Anbindung an die vorherigen Generationen verlieren.

Schützenvereine gehen besonders sorgsam mit ihrem „ererbten Haus“ um, denn häufig – wie hier in Nörvenich – geht die Geschichte mehrere hundert Jahre zurück und mit dem Erbe ist auch immer eine gewisse Verantwortung verbunden, dieses zu erhalten und weiterzugeben. Die Bewahrung der Tradition ist für die meisten Schützenvereine ein sehr wichtiger Aspekt ihres Vereinslebens und Veränderungen werden oft nur vorsichtig und nach langen Diskussionen vorgenommen. Aber auf der anderen Seite sind Veränderungen notwendig, um den Verein lebendig zu halten und für die neuen, meist jungen Mitglieder attraktiv zu machen. Oft werden die Veränderungen zudem von außen an die Schützen herangetragen, sie reagieren dann auf historische Ereignisse, politische Entwicklungen oder auch auf modische Trends und technische Innovationen. Und gut das sie das tun: Denn sonst müssten die St. Sebastianus-Schützen auch heute noch mit Pfeil und Bogen schießen!

Im Folgenden möchte ich Ihnen kurz einige der wichtigsten Phasen aufzeigen, in denen sich das Schützenfest, wie wir es heute kennen, herausgebildet hat. Und da der Anlass meines Kommens ja die Ausstellung zur Geschichte der St. Sebastianus Schützenbruderschaft hier in Nörvenich ist und eine Ausstellung immer auf den Dingen, die noch erhalten geblieben sind, basiert, möchte ich mich vor allem mit den Dingen beschäftigen, die heute so selbstverständlich zum Schützenwesen dazugehören, die aber letztlich alle erst nach und nach in das „Haus“ getragen wurden.

Das Schützenfest folgt wie jedes Fest nicht nur einem bestimmten Ablauf, sondern es werden auch bestimmte Dinge benötigt, um dieses Fest durchzuführen. Wie heute Weihnachten nicht ohne Weihnachtsbaum oder ein Geburtstag ohne Geburtstagskuchen denkbar ist, so gehören auch zum Schützenfest bestimmte „Requisiten“ wie Uniformen, blumengeschmückte Kutschen, bestickte Fahnen oder silberne Ketten unabdingbar dazu. Fast jedes dieser Elemente findet sich auch in anderen Zusammenhängen. Jäger tragen zum Beispiel oft ähnliche Jacken und Hüte wie die Schützen, Kutschen sind auch Bestandteil von Hochzeiten und fast jeder Turn- oder Gesangsverein besitzt eine Fahne, die bei festlichen Anlässen präsentiert wird. Andere Gegenstände sind hingegen ausschließlich im Umfeld des Schützenwesens anzutreffen, wie zum Beispiel die silbernen Königsketten oder der hölzerne Vogel für das Vogelschießen.

Doch die verschiedenen Gegenstände, die heute für uns so typisch für das Schützenwesen sind, entstammen unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen und Epochen. Dabei lassen sich vor allem drei Gruppen unterscheiden: Uniformen, Waffen, Orden und Fahnen sind aus dem militärischen Bereich übernommen worden; Blumen- und Straßenschmuck, Kutschen und die Ballkleidung der Frauen stehen in Zusammenhang mit der Übernahme von Elementen öffentlicher Feiern in die Gestaltung des Schützenfestes; und andere Dinge, wie die Königsketten, die Vögel, auf die geschossen wird, oder die Verwendung religiöser Symbole und Heiligendarstellungen, gehen hingegen auf die frühe Geschichte der Schützenbruderschaften zurück.

Ich beginne mit diesem Bereich, den

Gegenständen, die auf die Frühzeit der Bruderschaften zurückgehen.

Die wichtigsten und zentralen Elemente des Schützenfestes stammen aus dieser Phase und sind dabei so typisch, dass sie oft symbolisch für diese Veranstaltung stehen. Dazu zählen vor allem die Gegenstände, die rund um den Vogelschuss Verwendung finden. Schon in der Frühzeit der Schützenbruderschaften finden sich Hinweise darauf, dass es üblich war, den besten Schützen der Gruppe zu ermitteln. Zu dieser Zeit war es wichtig, dass jeder Schütze über gute Fähigkeiten im Schießen verfügte, um im Kriegsfall bei der Verteidigung der Stadt helfen zu können. Die Städte stellten den Schützen Gelände zur Verfügung, um Schießübungen mit Pfeil und Bogen, später mit der Armbrust und schließlich mit der Büchse und dem Gewehr durchführen zu können. In vielen Städten erinnern heute noch Straßennamen wie „Alte Schützenbahn“, „Schützengraben“ oder „Schützenhof“ an diese Plätze.

Das gemeinsame Üben förderte sicher auch den Wunsch, die Leistungen der einzelnen Schützenbrüder miteinander zu vergleichen. Und so führten die meisten Bruderschaften einmal im Jahr ein Vogelschießen durch, bei dem es darum ging, einen an einer hohen Stange befestigten hölzernen Vogel restlos herab zuschießen. Derjenige, der die letzten Bruchstücke herunter holte, wurde zum Schützenkönig ernannt. Obwohl das Schießen auf Schießscheiben, das bei den Übungsschießen, aber auch bei sonstigen Wettschießen üblich war, einen besseren Eindruck von den Fähigkeiten des Schützen gab, bevorzugte man für das jährliche Fest das Vogelschießen. Anders als auf der Scheibe, an der genau abzulesen ist, wer bessere Ergebnisse bringt, ist das Herunterholen des Vogels immer auch mit Zufall verbunden. Niemand kann genau vorher sagen, wann das hölzerne Ziel endlich nachgibt und die letzten Späne herunter fallen. Neben der zusätzlichen Spannung ist der Vorteil des Vogelschießens auch, dass es von den Zuschauern besser einzusehen ist als das Wettschießen auf eine Scheibe. Das unterhaltsame Vogelschießen fand daher nicht nur innerhalb der Schützenbruderschaften statt, sondern war häufig auch Bestandteil von Hochzeiten oder ländlichen Festen. Aber nur in den Bruderschaften wurde ein regelrechter Schützenkönig ausgeschossen.

Der Schützenkönig, der vielleicht nicht der beste Schütze war, aber doch der mit dem entscheidenden Quäntchen Glück, wurde durch eine besondere Kette ausgezeichnet. Die frühen Ketten erinnern in ihrer Gestaltung an die Ketten von Bürgermeistern oder Gildemeistern: Sie bestehen aus einer breiten, schön gestalteten Kette, an der ein einziger großer Anhänger befestigt ist. Auf dieser befindet sich meist eine Darstellung des Stadtwappens und des Schutzheiligen der Bruderschaft. Im 16. Jahrhundert entwickelten sich dann die Ketten, die auch heute noch als typische Schützenkönigsketten gelten: schmale silberne Gliederketten, an denen viele unterschiedlich gestaltete Plaketten hängen. An vielen Ketten finden sich zudem noch Symbole für das Schießen wie ein figürlich gestalteter Vogel oder eine Armbrust. Diese Ketten erinnern wie eine „Chronik in Silber“ an die Geschichte der Bruderschaft oder des Vereins, denn die einzelnen Schilde stammen von den jeweiligen Königen und wurden von diesen zur Erinnerung an ihre Amtszeit gestiftet. Was die Ketten heute so interessant macht, ist die individuelle Gestaltung der einzelnen Plaketten. Durch Gravuren oder Treibarbeiten sind auf den Schilden Wappen und Hausmarken, Heiligen- und Berufsdarstellungen, Namen und Sprüche vermerkt worden, die Hinweise auf die Könige, aber auch auf die jeweilige Entstehungszeit der Anhänger geben.

Die Ketten, die häufig auch als „Schwellketten“ bezeichnet werden, weil sie jedes Jahr weiter „anschwellen“, sind somit Symbol für die herausgehobene Stellung des Schützenkönigs, der für ein Jahr den Verein repräsentiert, aber auch für die Vorläufigkeit dieser Position – denn spätestens nach einem Jahr erhält ein neuer Schützenkönig die Kette und die Ehrenbezeugungen seiner Mitschützen.

Zwar hat sich das Schützenwesen im Laufe der Jahrhunderte in vielen Bereichen ganz entscheidend verändert, aber der Brauch, einen König auszuschießen und diesen durch eine Kette auszuzeichnen, hat alle Veränderungen überlebt und stellt immer noch das zentrale Element der meisten Schützenfeste dar. Die Vereine sind natürlich besonders stolz darauf, wenn ihre Ketten möglichst weit zurück reichen. Aber das war nicht immer so. Früher stellte die Kette vor allem auch den „Silberschatz“ der Vereine dar, auf den im Notfall zurückgegriffen werden konnte. Wenn also Geld benötigt wurde, z.B. für den Bau einer Schule, verkaufte man schon mal einige der Plaketten, „versilberte“ sie sozusagen. Oder man schmolz die Schilde ein: Die St. Sebastiani Bruderschaft Ratingen ließ etwa 1802 aus dem Silber von 16 älteren Königsschilden einen silbernen Vogel als Anhänger für ihre Kette fertigen, nachdem sie bereits 1775 15 Schilde hergegeben hatten, um ihrer Pfarrkirche ein Weihrauchschiffchen stiften zu können. Jedes mal trennten sie sich dabei von den ältesten Anhängern – ein Bewusstsein für den historischen Wert, der weit über dem materiellen Wert steht, war damals noch nicht so ausgebildet wie heute. Aber dennoch waren die Ketten der wertvollste Besitz der Bruderschaften, der möglichst geschützt werden musste. Manchmal führte dies zu kuriosen Geschichten: So fürchtete der Brudermeister der St. Sebastinaus Schützen in Frechen 1794 beim Einmarsch der Franzosen, die Kette der Bruderschaft, die bis 1655 zurückreichte, könnte beschlagnahmt werden. Er packte sie also in einen Kasten und versteckte das ganze auf dem Speicher des Bürgermeisterhauses – so gut, dass Kette und Kasten erst 1895 wieder gefunden wurden!

Kriegszeiten stellten immer eine Gefahr für den Besitz der Bruderschaften und Vereine dar. Die Kette ihres eigenen Vereins hat ja eine solche Odyssee hinter sich gebracht und ist, nachdem sie im Zweiten Weltkrieg verschwunden war, erst 1983 aus der damaligen DDR nach Nörvenich zurückgekehrt. Im Schützenmuseum in Neuss gibt es eine Schwenkfahne, die sogar eine noch größere Reise hinter sich gebracht hat: Sie wurde bei Kriegsende als Souvenir mit nach Amerika genommen und in den achtziger Jahren von dort zurück gebracht.

Viele Dinge sind jedoch verschwunden geblieben: der dreißigjährige Krieg, die Franzosenzeit, Erster und Zweiter Weltkrieg, oft jedoch auch Diebstahl, die Auflösung einer Bruderschaft oder einfach nur der veränderter Zeitgeschmack – jedes dieser Ereignisse hat den historischen Silberschatz der Bruderschaften im Rheinland zusammenschmelzen lassen. Aber auf der anderen Seite ist der aktuelle Bestand groß wie nie, denn inzwischen verfügen die Vereine nicht nur über Königsketten, sondern auch über Ketten für Schülerprinzen, Jungkönige, Präsidenten, Königinnen, Minister und Komiteemitglieder. Aber auch wenn diese neuen Auszeichnungen oft sehr modern gestaltet sind – letztlich weisen sie direkt zurück auf die Frühzeit der Schützenbruderschaften.

Nicht ganz so alt, aber dennoch prägend für das heutige Schützenwesen sind die Elemente, die aus

dem militärischen Bereich

stammen.

Die Entlehnungen aus dem militärischen Bereich sind sicher diejenigen, welche heute die Wahrnehmung der Schützen von außen am meisten prägen. Bei den Festen und Paraden unterscheiden sich die aktiven Schützen vor allem durch ihre gleichförmige Kleidung von den Zuschauern. Fast jeder Schützenverein tritt heute in einer einheitlichen „Uniform“ auf. Die Variationen scheinen eng begrenzt zu sein: Grüne oder schwarze Jacke, zweireihig mit sechs Knöpfen oder einreihig mit vier Knöpfen, mit dunklem Kragen oder mit aufgesetzter Tasche, mit weißer oder schwarzer Hose, mit grünem oder grauem Hut – so treten die Schützen heute in der Öffentlichkeit auf. – Und die dominierende Farbe ist auf jeden Fall das Jäger-Grün. Ansätze für die Entwicklung einer solchen, den Status als Schütze deutlich anzeigenden Kleidung gibt es jedoch erst seit Anfang des 19. Jahrhundert.

Im Mittelalter und Früher Neuzeit, also der Zeit, in der sich die frühen Schützenbruderschaften und -gilden ausbildeten, trugen ihre Mitglieder keine besondere Kleidung. Eine Ausnahme bildeten natürlich die Zeiten, in denen die Schützen tatsächlich auf den Wällen und Mauern der Stadt standen und ihrer Verteidigungspflicht nachkamen. Für diesen Fall griffen die Männer – um sich selbst zu schützen – auf Funktions- und Schutzkleidung zurück, etwa auf Brustpanzer und Helme aus Metall oder festem Leder. Diese rudimentären Rüstungen waren entweder im Besitz der Schützen selbst oder wurden im Verteidigungsfall von den Städten ausgegeben, die über gut ausgestattete Rüstkammern verfügten.

Im 16. Jahrhundert finden sich zunehmend Hinweise, dass die Mitglieder einer Bruderschaft sich nach außen hin durch bestimmte Attribute als Gemeinschaft ausgewiesen haben. Diese Funktion wurde vor allem durch eine bestimmte Kopfbedeckung übernommen, die manchmal auch vom Rat der Stadt bezahlt wurde. Für Münster in Westfalen sind Rechnungsbelege überliefert, nach denen die Stadt Mitte des 16. Jahrhunderts jedes Jahr in Antwerpen eine große Anzahl von „Bonetts“, eine Arte Barett, für die Schützen bestellt hat. 1544 bezog man von dort 156 derartige Mützen in roter Farbe. In anderen Orten finden sich Belege dafür, dass die Schützen bei ihren Aufzügen und Ehrengeleiten einheitliche Kogeln oder Gugeln, eine Art kurzer Schulterumhang mit Kapuze, getragen haben. Aber abgesehen von diesen gleichartigen Kopfbedeckungen gibt es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine Hinweise auf eine spezifische „Schützenuniform“. Die Schützen trugen bei den Treffen und Veranstaltungen der Bruderschaften vielmehr – je nach Anlass – ihre übliche Alltags- oder Festtagskleidung.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich das Erscheinungsbild der Schützen jedoch. Insbesondere in den vielen neu gegründeten Bürger-Schützen-Vereinen, die vor allem einem städtischen Umfeld entstammten und sich anders als die frühen Bruderschaften nicht als kirchliche, sondern als bürgerschaftliche und überkonfessionelle Vereinigungen verstanden, tauchten nun zum ersten Mal eigene Schützenuniformen auf. Das 18. und 19. Jahrhundert war das große Zeitalter der Uniformierung. Uniformen trugen damals nicht nur Soldaten und Militärangehörige, sondern auch nahezu alle Personen, die für den Staat (Ziviluniformen) oder für den Adel (Livreen) arbeiteten. Die große Selbstverständlichkeit, mit der Uniformen getragen wurden, führte sicher auch dazu, dass sich die neu entstehenden Schützenvereine und Schützengesellschaften mit einheitlicher Kleidung ausstatteten.

Einer direkten Übernahme von Militäruniformen, die von manchen Vereinen gewünscht wurde, stand das Verbot der preußischen Regierung gegenüber, solche Uniformen im zivilen Umfeld zu tragen. Die Schützenvereine wählten also den Weg, die militärischen Uniformen durch uniformierte Kleidung zu ersetzen. Die Grundausstattung bildete dabei in den meisten Vereinen die bürgerliche Festkleidung, der Frack, der durch bestimmte Ausstattungstücke wie Schulterklappen, Schärpen, Feldbinden oder Hüte ergänzt wurde. Wichtig war dabei nicht nur die Abgrenzung nach außen hin, zu den „Nicht-Schützen“, sondern auch die Hierarchisierung innerhalb der Schützen-Gemeinschaft selbst. Und so geben die militärischen Attribute nun auch für jeden deutlich sichtbar Auskunft über die Stellung des Einzelnen innerhalb des Vereins.

Daneben gab es jedoch immer mehr Vereine, die den festlichen Anzug durch eine ganz spezifische Schützenuniform ersetzten. Die meisten Vereine entschieden sich dabei für grüne Jacken, die sich an der militärischen Einheit der Jägertruppen orientierten. Im Rheinland tragen viele Schützen noch heute eine sehr militärisch aussehende Uniform mit hochgeschlossenem Waffenrock mit Stehkragen und einreihiger Knopfleiste, die sich eng an diesen Vorbildern orientiert. Die Verbindung von grüner Uniform und Schützenwesen ist dabei nicht zwingend, wie zum Beispiel ein Blick über die Grenze in die Niederlande zeigt. Dort tragen die Schützen ebenfalls Uniformen nach militärischen Vorbildern, diese sind jedoch nur selten grün. Häufiger finden sich blaue, rote, schwarze, manchmal sogar gelbe Uniformen.

Die grünen Jacken, die heute typisch für das Schützenwesen im nordwestdeutschen Raum sind, orientieren sich weniger streng an Uniformjacken, sondern nähern sich der Zivilkleidung an und weisen auch Einflüsse der süddeutschen Trachtenjacke auf. Das „Jäger-Grün“ von Schützenrock und Schützenhut erinnert heute zwar mehr an den Jäger und Forstbeamten im Wald, aber dennoch ergänzen vor allem bei den oberen Diensträngen, den Offizieren, die militärischen Attribute wie Epauletten, Fangschnüre, Zweispitze mit Federbusch oder goldene Tressen die normale Schützenuniform und machen den Rang deutlich sichtbar.

In den Bruderschaften und den Vereinen auf dem Land dauerte es oft wesentlich länger, bis eine eigentliche Uniform eingeführt wurde. Hier trug man oft bis in die 1950er Jahre zum Schützenfest den Sonntagsanzug. Die Anschaffung einer extra angefertigten Kleidung, die nur zu diesem Anlass getragen wurde, wurde hier als überflüssig empfunden. Allenfalls ein grüner Hut mit Federn oder Eichenlaub stellte eine gewisse Einheitlichkeit her. Inzwischen tragen jedoch fast alle Schützen, ob Verein oder Bruderschaft, eine – meist grüne – Uniform. Die kleinen Unterschiede, durch welche sich die Vereine dabei voneinander unterscheiden – hell- oder dunkelgrüner Stoff, Farbe der Hose, farbig abgesetzte Kragen und Ärmelaufschläge, Anzahl der Knöpfe, Applikationen etc., – zeigen dass neben dem Wunsch, sich überregional in eine „Gemeinschaft der Schützen“ einzugliedern, der Wunsch nach Hervorhebung der lokalen Eigenständigkeit steht.

Auch den einzelnen Schützen lässt sich dieser Wunsch nach Aufgehen in der Gruppe auf der einen Seite und nach Betonung der eigenen Person ansehen. Möglichkeiten, die eigene Individualität hervorzuheben bestehen hier vor allem in der Ausschmückung der Uniform. Denn jeder Schütze, der schon einige Jahre aktiv ist, trägt stolz eine Reihe von Orden und Erinnerungsmedaillen an seiner Uniformjacke. Verliehen werden diese Ehrenzeichen von den Vereinen und Bruderschaften, von den Schützenkönigen oder von den überregionalen Vereinigungen der Schützen wie dem Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften oder dem Westfälischen Schützenbund. Hinzu kommen Mitgliedsnadeln, welche die Zugehörigkeit zu einem Verein bzw. einem Korps oder einer Kompanie anzeigen, und Abzeichen, die an ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel ein Jubiläum oder die Teilnahme an einem der großen Schützentreffen, erinnern. Schützen, die sich im Sportschießen engagieren, können zusätzlich Schießnadeln und -abzeichen erwerben. Und auch die wichtigsten Funktionsträger innerhalb der Bruderschaft oder des Vereins, der König, die Mitglieder des Komitees oder der Oberst tragen eigene Abzeichen.

Das Verleihen von Verdienstorden und -abzeichen entstammt ebenfalls dem militärischen Bereich und wird von den Schützen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernommen. Anfangs erhielten vor allem die Schützenkönige oder die Sieger eines Schießwettbewerbs vom Verein ein Abzeichen zur Erinnerung an ihre Amtszeit oder ihre Leistung. So legte der Schützenverein Rhynern 1837 in seiner Satzung fest: „Wer das letzte Stück des Vogels abschießt, ist Schützenkönig und empfängt aus den Händen des Hauptmanns eine ihn an die Feyer des Festes erinnernde silberne Medaille.“

Der Austausch von Erinnerungs- und Ehrenzeichen ging jedoch bald über diesen engen Bereich hinaus. Bald erhielt in vielen Vereinen nicht nur der Schützenkönig eine Auszeichnung, sondern auch derjenige, der den Schweif, die Flügel oder den Kopf des Vogels herunterholte. Bei den Bundesschießen, den großen überregionalen Treffen der Schützen, konnte jeder Teilnehmer seinen Besuch durch eine dort erhältliche Medaille nachweisen. Und an jedes Vereins-Jubiläum wurde durch ein extra für diesen Anlass entworfenes Abzeichen erinnert. Wer wollte, konnte sich so nach und nach seine Uniformjacke mit seiner eigenen „Schützen-Biographie“ füllen.

Die Nachfrage nach den unterschiedlichen Abzeichen führte dazu, dass zahlreiche Anbieter Rohlinge für Schützenvereine anboten, die in der Form oft den militärischen Orden nachempfunden waren, jedoch mit Schützen-spezifischen Bildelementen wie Gewehren, Hüten, Eichenlaub, Vögeln und Schießscheiben geschmückt waren. Bis heute hat sich an Form und Gestaltung der angebotenen Stücke nur wenig geändert.

Ähnliche Motive finden sich auch auf den Fahnen der Schützenvereine. Die Fahne, die ursprünglich in der Schlacht und im Feldlager als Erkennungs- und Orientierungszeichen für eine Gruppe zusammengehörender Soldaten diente, hat sich für auch für andere Gemeinschaften zu einem identitätsstiftenden Zeichen entwickelt. Dies gilt für nahezu alle Vereine, vor allem aber für die Schützen. Die Fahnen werden bei allen öffentlichen Auftritten präsentiert, also bei den Paraden und Umzügen anlässlich des Schützenfestes ebenso wie bei Beerdigungen verstorbener Schützenbrüder oder bei der Teilnahme einer Abordnung des Vereins an Prozessionen und Gottesdiensten. Das Tragen der Fahne ist ein Amt, das in vielen Vereinen besondere Auszeichnung verstanden wird. In den Bruderschaften und den Vereinen konfessioneller Ausrichtung werden die Fahnen geweiht und zeigen meist nicht nur das Vereinsemblem, sondern auch den jeweiligen Schutzheiligen. Die häufige Präsentation der Fahne führt dazu, dass der bestickte Stoff nach einigen Jahrzehnten verschleißt. Viele Vereine entscheiden sich in so einem Fall dafür, die alte Fahne originalgetreu nachfertigen zu lassen oder zumindest die bisherigen Bildelemente zu übernehmen. Als eines der zentralen, Geschichte und Gegenwart des Vereins symbolisierenden Gegenstandes ist nicht die Aktualisierung, sondern vielmehr die Bewahrung der dargestellten Symbole gewünscht.

Am auffälligsten unterscheiden sich die Schützen bei ihren Aufzügen von anderen Vereinen sicher durch das Tragen von Waffen. Obwohl die Schützen-Bruderschaften, zu deren Aufgaben in der Frühen Neuzeit auch die Verteidigung des eigenen Wohnortes mit Waffengewalt gehörte, spätestens nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges keine militärische Bedeutung mehr hatten, bezogen sich die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu gegründeten Bürgerschützenvereine ebenso wie die Bruderschaften weiterhin stets auch auf diese Tradition. Durch das Tragen der Waffen und die Orientierung an militärischen Formationen signalisierten sie ihre Bereitschaft, für Staat und Vaterland einzutreten – wenn diese Institutionen tatsächlich auch nie auf dieses Angebot eingingen. Das Tragen von Waffen wurde von der Obrigkeit vielmehr häufig mit Misstrauen beobachtet und mit Verboten belegt. Heute tragen die Schützen allenfalls noch Holzgewehre, deren fehlende Funktion noch durch Blumen, die vorne in den Lauf gesteckt sind, bewusst betont wird. Der Umgang mit funktionierenden Waffen findet nur noch in wenigen streng überwachten Bereichen statt: einmal beim Vogelschuss und dann in den Abteilungen der Sportschützen.

Aber nicht nur das Aussehen der Schützen hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert, das ganze Schützenfest hat heute eine andere Ausrichtung als die Feiern der alten Bruderschaften. Die entscheidenden Einflüsse stammen dabei aus einem Bereich, der uns eher fremd geworden ist:

Dem höfischen Zeremoniell des 19. Jahrhunderts.

Zwar gab es schon bei den Schützenbruderschaften der Frühen Neuzeit, deren Hauptaufgabe in der militärischen Verteidigung des eigenen Wohnortes und der Pflege religiösen Gemeinschaftslebens bestand, ein jährliches Fest, das sogenannte Brudermahl oder Gelage. Aber dieses Fest, bei dem üppig gegessen und getrunken wurde, fand in Privathäusern, Gastwirtschaften oder sogar im Rathaus als mehr oder weniger „geschlossene Gesellschaft“ statt. Eingeladen waren neben den Schützen und ihren Frauen lediglich einige wenige Gäste, oft Vertreter des Rates und der Obrigkeit. Selbst die Kinder der Schützenbrüder waren nicht zugelassen. In den Statuten finden sich dazu ausdrückliche Verbote wie zum Beispiel: „In das Haus, worin das Schützenbier getrunken oder der König eingebracht wird, sollen die Schützen ihre Ehefrauen mitzubringen bemächtigt sein, die Kinder aber sollen durch den Geck fortgetrieben werden.“[1]

Auch das Königsschießen fand häufig lediglich im Beisein der Brüder statt. Die gesellschaftliche Bedeutung der Bruderschaften und des „besten Schützen“, also des Schützenkönigs, wurde jedoch durch einen öffentlichen Umzug verdeutlicht. Auch die alten Bruderschaften nutzten also die Möglichkeit, ihren eigenen Status durch gemeinsame Feste und gemeinsames Auftreten zu festigen. Allerdings richteten sich diese Aktionen sehr viel mehr an die Schützenbrüder selbst. Ob und inwieweit die übrige Bevölkerung Teil nehmen konnte und wollte, war von untergeordneter Bedeutung.

Dies änderte sich Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch grundlegend. Die neuen Vereine, die sich in dieser Zeit gründeten, lösten sich von der Tradition der alten Bruderschaften und definierten sich ausdrücklich als überkonfessionelle, ständeübergreifende und gesellige Vereinigungen auf der Grundlage der bürgerlichen Ideale. Die Vereine boten den Bürgern eine Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen. Zu dieser Zeit gründeten sich nicht nur viele neue Schützenvereine, sondern auch Turn-, Gesangs-, Harmonievereine, Lesegesellschaften und Zivilclubs – die Variationsbreite, der neu entstehenden Vereinigungen war groß. Aber kaum eine Vereinsform bot so ideale Bedingungen, sich in der Öffentlichkeit als Gruppe mit gemeinsamen Zielen zu präsentieren, wie der Schützenverein.

Und so veränderte sich auch das gemeinsame Fest der Schützen immer mehr zum Volksfest, an dem möglichst viele Bürger der Stadt teilnehmen sollten. Um das Fest attraktiv zu machen, fand immer häufiger parallel zum Schützenfest ein „Beiprogramm“ mit zusätzlichen Preisschießen, Bällen, Konzerten und Kinderbelustigung sowie eine Kirmes oder ein Jahrmarkt statt. Und die Umzüge entwickelten sich immer mehr zu aufwendigen Paraden, die nun zum zentralen Bestandteil des Schützenfestes wurden. Bei der Ausgestaltung dieser Aufzüge orientierte man sich an Festformen, die für die Menschen damals sehr vertraut waren: An Umzügen und Feiern zu Ehren von Herrschern und Königen. Mit Girlanden geschmückte Straßen und Ehrenpforten, die über die Straße gebaut waren, blumengeschmückte Kutschen, Fackelumzüge, weißgekleidete Frauen, die Auszeichnungen überreichen, und Musikkapellen, welche die Schützen auf ihren Umzügen begleiteten, fanden nun erstmals Einzug in das Schützenwesen. Auch die Rolle des Königs veränderte sich. Er war nicht mehr nur der beste Schütze, sondern übernahm quasi für ein Jahr die Herrschaft über seine Vereinskameraden, die ihm beim Vorbeimarsch huldigten wie einem tatsächlichen König. Und – auch das eine Neuerung in vielen Vereinen – ihm stand nun eine Königin zur Seite. König und Königin bilden seitdem den Mittelpunkt des Festes und allen Modernisierungen zum Trotz trägt die Schützenkönigin heute immer noch eine Festrobe, ein Ballkleid, und eine rudimentäre Krone, ein Diadem, und ist von Hofdamen und Hofstaat umgeben.

Das Schützenfest hat sich also erst im Laufe der Jahrhunderte zu seiner heutigen Form entwickelt. Die Gepflogenheiten der alten Bruderschaften, die Orientierung an militärischen Vorbildern und das Vorbild einer königlichen Huldigungsfeier haben dabei die wesentlichen Elemente geliefert, aus denen sich das heutige Fest zusammensetzt. Und noch ist die Entwicklung längst nicht abgeschlossen. Immer wieder kommen neue Dinge hinzu, die Schützenwesen und Schützenfest verändern und an die heutige Zeit anpassen. So habe ich mit Interessen gesehen, dass im Jahr 2006, also im 598 Jahr ihres Bestehens, die Aufnahme von Frauen in die Bruderschaft zugelassen wurde. Die inzwischen große Zahl an Schützenschwestern zeigt, dass diese Innovation tatsächlich auch gewünscht wurde und den Verein nun stärkt.

Welche Veränderungen den St. Sebastianus Schützen noch bevorstehen werden – wir wissen es nicht. Aber auf jeden Fall wünsche ich den hiesigen Schützenbrüdern und –schwestern weiterhin viel Erfolg und alles Gute, wenn es geht noch einmal für 600 Jahre!

Vielen Dank!



[1]              Zitiert nach Dietmar Sauermann, Friederike Schepper und Norbert Kirchner: Schützenwesen im kurkölnischen Sauerland. Arnsberg 1983, S. 22.